e:3.17 Maschinenbau und technische Normen – selber denken macht schlau!
Das Bundesgericht hat ein Verkaufsverbot der Suva für bestimmte Typen von Schnellwechslern (Geräte zum raschen Auswechseln von Bagger-Anbaugeräten) geschützt, weil diese die Sicherheit nicht genügend gewährleisteten. Das Gericht rief die Grundsätze der EU-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG zur Integration der Sicherheit in die Maschinenkonstruktion in Erinnerung. Technische Normen befreien den Maschinenkonstrukteur nicht davon, die Risiken seiner Konstruktion konkret zu beurteilen und entsprechende Massnahmen vorzusehen.
Worum geht es?
Mit Schnellwechseleinrichtungen («SWE») können Baggerführer Anbaugeräte (Schaufeln, Abbauhämmer, Greifer etc.) wechseln, ohne dass sie dazu den Führerstand verlassen müssen. Die Suva verfügte ein Verkaufsverbot für gewisse Typen von solchen SWE, nachdem nicht korrekt angekoppelte Anbaugeräte zu schweren Unfällen geführt haben.
Die betroffenen SWE sahen Hinweise in der Kabine und Bedienungsvorschriften in der Betriebsanleitung vor, um solche Vorkommnisse zu verhüten. Aus Sicht der Suva genügte dies nicht. Der Hersteller hätte konstruktive Massnahmen vorsehen müssen, um die Risiken, die zu den Unfällen führten, zu vermeiden. Warnhinweise genügen nur dann, wenn konstruktive Massnahmen nicht möglich sind oder nicht genügen.
Dieses Konzept ist in der EU-Maschinenrichtlinie (Richtlinie 2006/42/EG, «MRL») vorgeschrieben und für den Maschinenbauer daily business. Speziell ist hier allerdings, dass es für SWE eine harmonisierte technische Norm gibt. Deren Anforderungen waren erfüllt. Damit musste die Suva nachweisen, dass die betroffenen SWE den gesetzlichen Anforderungen an Gesundheitsschutz und Sicherheit nicht genügten, obwohl sie die anwendbaren Normen einhielten.
Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil C-2257/2014) hat den Nachweis als nicht erbracht beurteilt und die Verkaufsverbote aufgehoben. Das Bundesgericht sah es genau umgekehrt und setzte die Verkaufsverbote wieder in Kraft (Urteile 2C_75/2016 und 2C_76/2016).
Das Urteil
Das Bundesgericht bestätigte, dass die technische Norm, auf welche sich die Maschinenhersteller beriefen, einschlägig ist und für die hier relevanten Gefährdungen eine Regelung enthält. Die Norm wies also keine Schutzlücke auf (Erwägung 7.3).
Hingegen erachtete es den Nachweis, dass die SWE trotz Einhaltung der Norm die gesetzlichen Vorschriften an die Sicherheit von Maschinen nicht erfüllten, als erbracht. Massgebend waren dabei nicht etwa konkrete, von den beanstandeten SWE aus[1]gehende Gefahren. Vielmehr kreidete das Bundesgericht der Norm an, dass deren Regelungen nur die «normalen Betriebsbedingungen» im Blick hätten. Die Norm sehe aber nicht vor, dass auch «vorhersehbare Fehlanwendungen» in der Konstruktion zu berücksichtigen sind (Erwägung 8.4). Damit verletze die Norm einen elementaren Grundsatz der Maschinenrichtlinie (siehe unten). Das genügt laut Bundesgericht, um die Konformitätsvermutung (Art. 5 Abs. 2 PrSG) umzustossen.
Würdigung aus Sicht des Maschinenbauers
Es kommt im Baustellenalltag vor, dass Schnellwechsler nicht vollständig verriegelt sind. Können dadurch die tonnenschweren Anbaugeräte nach dem Anheben herunterfallen, ist das sehr gefährlich.
Risiken müssen primär mit konstruktiven Massnahmen beherrscht werden. Warnhinweise kommen erst in letzter Priorität in Frage. Dieser elementare Grundsatz der Maschinenrichtlinie ist im Maschinenbau längst etabliert. Auch dass die vorhersehbaren Fehlanwendungen ein zentraler Faktor der Maschinensicherheit sind, muss man einem Maschinenbauer nicht erklären.
Aus Sicht des Verfassers (der nicht in die Verfahren involviert war, den Sachverhalt jedoch kennt) war und ist es ziemlich offensichtlich, dass die beanstandeten SWE-Typen und auch die SWE-Norm diese Grundsätze nicht einhalten. Das Urteil kann daher in der Sache auch von einem Freund der Maschinenindustrie nicht ernsthaft als falsch oder realitätsfremd kritisiert werden.
Zu denken gibt allerdings Folgendes: Warum konnte sich eine einschlägige, von Expertenrunden bearbeitete, seit langem bestehende, periodisch angepasste und europäisch harmonisierte technische Norm, die sich mit einem tausendfach eingesetzten Gerät befasst, um einen der elementarsten Grundsätze der Maschinenrichtlinie foutieren, ohne dass bisher Gerichte eingeschritten sind? Der Maschinenhersteller darf sich wohl zurecht die Frage stellen, worauf er
sich denn noch verlassen kann.
Die Grundsätze der Maschinenrichtlinie zur Beherrschung der Risiken gehen den technischen Normen vor
Die Maschinenverordnung (MaschV; SR 819.14) als Ausführungsverordnung des Produktesicherheitsgesetzes integriert die EU-Maschinenrichtlinie praktisch vollständig in das schweizerische Recht. Die MRL schreibt in Ziff. 1.1.2 des Anhangs 1 vor, wie der Konstrukteur mit Risiken, die von einer Maschine ausgehen, umzugehen hat.
Eine Maschine ist primär so zu konstruieren, dass Risiken gar nicht erst auftreten. Lassen sich Risiken nicht vermeiden, müssen konstruktive Schutzmassnahmen ergriffen werden. Mit Warnhinweisen und Betriebsvorschriften dürfen nur Restrisiken erfasst werden, welche nicht mit konstruktiven Massnahmen beherrscht werden können (vgl. dazu den Beitrag des Verfassers «Bedienungsanleitungen und Warnhinweise im Maschinenbau, abrufbar unter «Publikationen» auf epartners.ch). Ist eine Maschine nach den einschlägigen harmonisierten Normen konstruiert, wird vermutet, dass dieser Grundsatz eingehalten ist.
Das Bundesgericht hat nun klargestellt: Um die Konformitätsvermutung zu Fall zu bringen, muss nicht zwingend die Gefährlichkeit einer Maschine nachgewiesen werden. Es genügt bereits der Nachweis, dass die einschlägige technische Norm den erwähnten Grundsatz missachtet.
Den Maschinenherstellern und auch den Importeuren ist die Kehrseite des für die meisten Maschinen geltenden Prinzips der Eigenverantwortung in Erinnerung zu rufen: Letztlich tragen sie die Verantwortung für die Sicherheit der von ihnen in Verkehr gebrachten Maschinen, selbst wenn sie sich auf Normen verlassen.
Zu einer Maschine gehört immer eine Risikobeurteilung
Das Bundesgericht äussert sich zwar an verschiedenen Stellen dahingehend, dass die Einhaltung der einschlägigen Normen den Maschinenhersteller davon befreie, eine maschinenspezifische Risikobeurteilung vorzunehmen (z.B. die Erwägungen 5.6.4 und 6.6). Diese Aussagen sind mit Vorsicht zu geniessen und müssen im Kontext des ganzen Urteils betrachtet werden.
Ein Maschinenhersteller hat für seine Maschinen die in Anhang VII zur MRL definierten technischen Unterlagen zu erstellen und aufzubewahren (Art. 5 Abs. 1 lit. b MRL). Darunter fallen eine Beschreibung der zur Abwendung ermittelter Gefährdungen oder zur Risikominderung ergriffenen Schutzmassnahmen. Einfacher ausgedrückt: Die technischen Unterlagen müssen zwingend eine Risikobeurteilung enthalten.
Der Maschinenhersteller ist laut Bundesgericht (in Übereinstimmung mit dem EU-Leitfaden zur Maschinenrichtlinie) verpflichtet, abzuklären, ob alle von seiner Maschine ausgehenden Gefährdungen von der harmonisierten Norm abgedeckt sind. Wo dies der Fall ist, darf er sich auf die Norm verlassen, wo nicht, muss er eine umfassende Risikobeurteilung für diese Gefährdungen vornehmen. Um diese Unterscheidung vornehmen zu können, muss eine Risikobeurteilung erstellt werden.
Es bleibt also dabei: Zu einer Maschinendokumentation gehört zwingend eine Risikobeurteilung!
Fazit
Die Kenntnis und Anwendung technischer Normen bleiben für den Maschinenhersteller das A und O. Sie befreien ihn aber nicht davon, diese Normen im konkreten Fall kritisch zu hinterfragen. Im Zweifelsfall geht die Maschinenrichtlinie vor. Es ist jedem Konstrukteur zu raten, sich hin und wieder den Anhang 1 der Maschinenrichtlinie zu Gemüte zu führen – genau so, wie es auch dem Juristen nicht schadet, wieder einmal ins Gesetz zu schauen.
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